„Das ‚Chaos‘ ist eine Quelle der Kreativität“

Dr. Frank Jürgen Richter im Exklusivinterview über Indien als neuen Wachstumsmarkt und bedeutender Investor

SHInsight: Herr Dr. Richter, wann haben Sie Indien erstmals als Land jenseits der ihm gebetsmühlenartig zugeschrieben Exotik wahrgenommen, als Land, das wirtschaftlich, politisch und kulturell von steil anwachsender Bedeutung ist?

Dr. Frank-Jürgen Richter: Ich habe Indien schon immer geliebt, habe es schon als Student bereist, auch die nördlichen Regionen, die Berge. Vor 20 Jahren war Indien noch nicht so wirtschaftlich bedeutend wie heute. Aber allein durch die Größe des Landes, die Kultur und Geschichte war die Bedeutung immer ersichtlich. Beruflich kam ich mit Indien in meiner Zeit beim Weltwirtschaftsforum in Kontakt, wo ich unter anderem für den großen „Indian Summit“ zuständig war. 2005 gründete ich die Horasis-Organisation, die zunächst China im Fokus hatte. Vier Jahre später stand erstmals Indien auf der Agenda – mit dem „India Meeting“ in München in Kooperation mit der bayerischen Landesregierung. Und es war von Anfang an ein durchschlagender Erfolg.

Wie sieht nach Ihrem Eindruck das Bild aus, das sich die Welt heute von Indien macht?

Der europäische Blick auf Indien geht immer noch durch die überlieferten Schablonen: Kastenwesen, Witwenverbrennung, Armut, die üblichen Klischees. Kaum jemand hat das moderne Indien vor Augen, die pulsierenden Städte, das Wirtschaftswachstum, die hochqualifizierten Menschen. Dieses Image muss unbedingt korrigiert werden, etwa durch mehr Interaktion auf politischer und wirtschaftlicher Ebene oder mit Veranstaltungen wie unserer. Die Bundeskanzlerin hat Indien besucht, der indische Premierminister war 2015 mit seiner Initiative „Make in India“ auf der „Hannover Messe“. So etwas hilft dabei, das Bild zu ändern. Und es hat sich in letzter Zeit auch dramatisch geändert – zum Positiven. Der Grund: China war in den letzten 20 Jahren immer das Zugpferd der Globalisierung, Indien lief daneben als second best. Inzwischen gilt Indien nicht nur als neuer Wachstumsmarkt, der China langsam ablösen könnte, sondern auch als bedeutender Investor. Schauen Sie sich beispielsweise an, wie viele indische Unternehmen in England tätig sind. Tata ist der größte industrielle Arbeitgeber des Landes. Tata Steel und Jaguar beschäftigen dort zusammen über 100.000 Menschen. Schauen wir mal, wie das nach dem Brexit weitergeht. Auch in Deutschland investieren indische Unternehmen in zunehmendem Maße, gerade in deutsche Mittelständler. Für die Automotive-Sparte ist Indien nicht nur Absatzmarkt, sondern ebenfalls Investor. Das alles ergibt doch ein sehr positives Bild.

Narendra Modi ist vor drei Jahren mit haushohem Vorsprung zum Premierminister gewählt worden. Die Erwartungen an ihn sind kaum zu erfüllen. Zeigen sich wenigstens schon kleinere Fortschritte?

Keine Frage, man muss Geduld haben. Die ausufernde Bürokratie, die über Jahrzehnte aufgebaut worden ist, gibt es nach wie vor auf allen Ebenen, die Verkehrsinfrastruktur ist ungenügend. Modi ist als change maker angetreten, um all das mit tiefgreifenden Reformen zu ändern. Er selbst ist ja der beste Botschafter für das moderne Indien, wenn man bedenkt, wie viele Länder er in den letzten drei Jahren schon bereist hat – die USA, Japan, europäische Länder, darunter auch Deutschland. Er treibt die indischen Investitionen voran und wirbt für ausländische Investitionen in Indien. Dabei zielt er nicht nur auf IT und Outsourcing. „Make in India“ richtet sich explizit an der Produktion aus, „Industrie 4.0“ ist ein wichtiges Thema. Dennoch klagen viele Investoren noch immer über die Investitionsbedingungen, denken Sie an die rückwirkende Steuer wie im Fall Vodafone. Und doch hat sich da schon viel getan, weshalb auch immer mehr Unternehmen aus aller Welt nach Indien kommen. Die niedrigeren Kosten spielen dabei keine große Rolle mehr, sondern zum Beispiel die gut ausgebildeten Arbeitskräfte. Es gibt viele sehr gute Universitäten, und viele junge Inder, die in England, den USA oder auch Deutschland studiert haben, kehren zurück und investieren. Und zwar nicht nur die Söhne und Töchter der großen Unternehmer, sondern auch die des neuen Mittelstands.

Neben den durchaus berechtigten Kritikpunkten halten sich im Westen hartnäckig auch diffuse Vorbehalte, die sich an Äußerlichkeiten festmachen. Fehlende Strukturen in seinem Sinne bewertet der Deutsche gleich als „Chaos“, ohne in Erwägung zu ziehen, dass es vielleicht indische Strukturen geben könnte, die er weder kennt noch wahrnimmt, die aber bestens funktionieren. Ist da nicht auch viel westliche Überheblichkeit im Spiel?

Die westliche Überheblichkeit finden Sie eigentlich gegenüber allen Ländern, sei es China, Russland, Lateinamerika oder Afrika. Nicht umsonst heißt es, dass wir Westler alles minutiös planen wollen und nichts dem Zufall überlassen. Dagegen gilt Improvisation nicht gerade als unsere Stärke. Das angebliche „Chaos“ halte ich beispielsweise für eine Quelle von Kreativität. Bei Innovationen haben oft genug Inder ihre Hände im Spiel, man muss nur ins Silicon Valley blicken, das ja geradezu von Indern lebt. Viele der großen amerikanischen Konzerne werden von Indern geführt. Was Inder eigentlich heute verkörpern, ist eine Mischung aus Kreativität und westlicher Planung. Da wird sich der Westen umstellen müssen. Ich bin davon überzeugt, dass der große Schub der Globalisierung, nämlich dass indische und chinesische Unternehmen europäische aufkaufen, erst noch bevorsteht. Die Chinesen sind schon kräftig dabei, die Inder folgen. Afrika zum Beispiel gewinnt auch deshalb an Bedeutung als emerging market, weil die großen indischen Unternehmen schon vor Ort sind, vor allem in Mosambik, Kenia, Südafrika, teilweise schon der zweiten und dritten Generation. Das ist die Zukunft. Und wer immer dabei mitmischen will, der ist gut beraten, in interkulturelles Management zu investieren.

Indien steht im Wettbewerb um Investitionen mit anderen Schwellenländern. Welche Vorteile hat das Land im Vergleich?

Die Vorteile liegen auf der Hand: die englische Sprache, das englische Rechtssystem, die Demokratie. Und ganz wichtig: die große Zahl von non-resident Indians, die NRIs, die auf der ganzen Welt leben und damit Indien zu einem umfassenden globalen Auftritt verhelfen. Schauen wir uns zum Vergleich das eigentlich recht künstliche BRICS-Konstrukt an: Russland ist out, Brasilien ist out, Südafrika hat derzeit ebenfalls so seine Probleme. China ist natürlich immer noch in, durchläuft aber eine Konsolidierungsphase mit nicht länger 10 bis 15 Prozent, sondern eher 6 bis 7 Prozent Wachstum. Somit spielen derzeit bei BRICS nur noch das I und das C eine Rolle, und dabei rückt das I paritätisch immer mehr vor das C.

Wer durch Indien reist, gewinnt schnell den Eindruck, dass Marketing zum Lebenselixier des Landes gehört – so viele bunte, grelle Werbeplakate noch im kleinsten Dorf, so viele Spots im Fernsehen findet man vielleicht nicht mal in Amerika. Nach innen sind Inder also ganz große marketeers. Nach außen machen sie nicht gerade diesen Eindruck. Wer auf Messen oder anderen Gelegenheiten einen Blick in die oft auf minderwertigem Papier gedruckten Prospekte mit unscharfen Bildern in sehr schlichtem Layout geworfen oder die wenig professionell aufbereiteten PowerPoint-Präsentationen gesehen hat, wird nicht gerade darin bestärkt, auf leistungsfähige Geschäftspartner vertrauen zu können. Es hapert an der Selbstvermarktung. Teilen Sie diese Ansicht?

Auch in dieser Hinsicht hat sich viel verändert, gerade weil es jede Menge Botschafter neben den eigentlichen Botschaftern gibt, nämlich die kulturellen: etwa die mainstream culture, die Musik und die Kunst. Mehr und mehr schwappt eine Art Indian wave um den Erdball, die allerdings wenig konzertiert ist. Es gab vor einigen Jahren eine riesige Werbeplakat-Kampagne – „Incredible India“. Das war durchaus ein Riesending. Es ist natürlich die Frage, ob das Geld gut angelegt ist, wenn man so etwas nur mit Plakaten macht. Aber auch in dieser Beziehung ist ein Lernprozess im Gange, vor allem durch die vielen jungen Leute, die eine Ausbildung in Europa oder Amerika genossen haben. Im indischen Schulsystem herrscht leider das Auswendiglernen vor, weniger das kreative Denken. Und der Prüfungsdruck, die Auswahlverfahren, die knallharte Konkurrenz durch die schiere Anzahl an Menschen macht die Sache nicht einfacher. Doch wenn man die Inder „loslässt“, die im Westen ausgebildet wurden, dann kommt die ganze Kreativität zutage.

Und ihr bewundernswertes Improvisationstalent im Verein mit Flexibilität. Inder sind problem solver.

Meine These: Setzen Sie einen Inder im Urwald aus, auf einem Berg oder einem Boot auf hoher See – er wird immer überleben und sein eigenes Geschäft aufbauen. Der Deutsche braucht Strukturen, sonst kommt er nicht zurecht. Inder kommen überall zurecht, das ist unglaublich.

Was sind Ihre Top-Five-Ratschläge an einen deutschen, einen europäischen Unternehmern für einen erfolgreichen Markteintritt in Indien?

Zuallererst: Langer Atem und Geduld. Die verliert man in Europa schnell, wenn es nicht gleich klappt. Zweitens: Man darf nicht den Fehler machen, von dem Indien, also einem monolithischen Land zu sprechen. Indien ist viele Länder, die zwar von einer Zentralregierung in Neu-Delhi gesteuert wird, jeder Bundesstaat ist dennoch vollkommen unabhängig, hat andere Investitionspläne, eine andere Mentalität, andere Chancen und andere Herausforderungen. Wer in Maharashtra erfolgreich ist, muss das noch lange nicht in West-Bengalen oder Tamilnadu sein. Zum Dritten muss man sich auf die kulturellen Unterschiede einlassen und nicht unbedingt westliche Managementstrukturen durchzusetzen versuchen. In Indien läuft Vieles über persönliche Beziehungen und Persönlichkeit, weniger über regulierte Prozesse und Strukturen wie in Europa. Man muss als Unternehmer indisches Personal aufbauen, das heißt, früh in die Ausbildung seiner key personals investieren, gezielt Verantwortlichkeiten übergeben und nicht nur mit Experten agieren. Punkt 4 ist die Erkenntnis, dass sich Indien perfekt als Hub, als Drehkreuz für Asien und sämtliche emerging markets eignet. Man kann nicht nur für den indischen Markt produzieren, sondern „Made in India“ gewinnt sukzessive an Bedeutung. China hat es vorgemacht, auch hier ist der Ruf längst nicht mehr so schlecht wie früher. So weit ist Indien leider noch nicht, auch deshalb, weil viele noch nicht begreifen, dass Indien bereit ist für Hightech. Bosch macht es in Kooperation mit Micro sehr erfolgreich vor. Sie entwickeln und produzieren in Bangalore und exportieren von hier in andere Länder. Und Fünftens: Man muss indische High-Potential-Persönlichkeiten und Nachwuchskräfte im Unternehmen integrieren, auch im deutschen headquarter. Das ist eine Bereicherung auf beiden Seiten, die sich letztlich auch in Euro und Rupie niederschlägt.

Dr. Frank-Jürgen Richter war von 2001 bis 2004 Direktor beim World Economic Forum. 2005 gründete er die Organisation „Horasis“ (www.horasis.org), die unter anderem das „India Meeting“ veranstaltet, bei dem sich alljährlich alle treffen, die im Indiengeschäft Rang und Namen haben. Die nächste Veranstaltung findet vom 25. bis 26. Juni 2017 in Interlaken statt.

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