„Lieber die Kultur verstehen als Druck ausüben“

Britta Leick-Milde im Exklusivinterview: Warum Indien ein attraktiver Markt für deutsche Investoren ist und welche Rolle West-Bengalen und seine Hauptstadt Kalkutta dabei spielen könnten

SHInsight: Frau Leick-Milde, Indien gilt vielen deutschen Investoren immer noch als allzu schwieriges Pflaster. Haben sie Recht?

Britta Leick-Milde: Eine pauschale Antwort ist darauf sicherlich nicht möglich. Und doch möchte ich behaupten, dass selbst schuld ist, wer sich diesen Markt entgehen lässt. Schauen Sie sich doch um: China – ganz gewiss auch kein leichter Markt – stottert, der niedrige Ölpreis macht den Förderländern zu schaffen, der Brexit lässt Großbritannien husten. Angesichts dessen, dass sich in Indien sehr schnell sehr viel zum Positiven gewandelt hat – wovon deutsche Medien leider kaum berichten –, sage ich klipp und klar: Indien ist ein attraktiver Markt für deutsche Investoren. Man muss zwar Geduld mitbringen, aber die Erfolgswahrscheinlichkeit ist hoch.

Wenn man ein Fünf-Sterne-Hotel als Gradmesser der Wirtschaft nimmt, muss es in Kalkutta brummen. Ihr Hyatt macht zumindest den Eindruck, dass es gut ausgelastet ist.

Derzeit dürfte es allen Hotels in Indien gut gehen. Außerdem haben wir hier ein krisenresistentes Geschäftsmodell: die Ausrichtung von Hochzeiten. Wohlhabende Familien, beispielsweise aus der Volksgruppe der Marwari-Geschäftsleute, machen daraus gerne ein rauschendes Fest. Allein das bringt uns 30 Prozent des Umsatzes. Doch davon abgesehen, ist Kalkutta eine Ausnahme. Während es beispielsweise in Mumbai bestimmt 500 Fünf-Sterne-Hotels gibt und auch in anderen Wirtschaftsmetropolen kräftig in die Hotellerie investiert wird, haben wir hier gerade mal sieben Fünfer. Zwei weitere werden gerade gebaut. Aber das war’s dann vorerst auch. Die Stadt wird dann über etwa 3.700 Zimmer der oberen Kategorie verfügen. Bei einem großen Event mit 2.000 Teilnehmern ist Kalkutta – zusammen mit der alltäglichen Belegung – praktisch ausgebucht. Keine Seltenheit, denn die großen Konferenzen beispielsweise fallen hier meist in die Hochzeitsaison. Doch da tut sich einiges, auch auf Initiative der west-bengalischen Landesregierung.

Die hat nach einer Legislaturperiode an der Macht die jüngsten Landtagswahlen mit knapp drei Viertel der abgegebenen Stimmen haushoch gewonnen. Hat sie das bis 2001 über drei Jahrzehnte von der Kommunistischen Partei regierte Bundesland auch wirtschaftlich attraktiver gemacht? Immerhin sind hier inzwischen über 200 deutsche Unternehmen über Niederlassungen oder Joint Ventures vertreten.

Es bleibt zwar dabei, dass in West-Bengalen alles etwas langsamer abläuft als anderswo, aber die Richtung stimmt inzwischen: Es geht bergauf. Gerade der Dienstleistungssektor findet hier ideale Bedingungen: Die Menschen sind gut ausgebildet, die Alphabetisierungsrate mit die höchste in ganz Indien, und alle sprechen Englisch. Ein Banker, der in Kalkutta ein Ausbildungs- und Servicecenter mit rund 6.000 Mitarbeitern betreibt, hat mir jüngst erzählt, dass er die Stadt allen anderen vorziehe, weil hier seine Trainees praktisch nicht abgeworben werden. Der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt ist nicht sehr hoch.

Dafür zieht es aber viele junge, gut ausbildete Leute weg aus der Stadt.

Das ist richtig – und schade. Es fehlt noch an einem nachhaltigen Konzept zum Ausbau der Wirtschaft. Man müsste sich mehr auf seine Stärken konzentrieren, neue Wege gehen und dafür die Werbetrommel rühren. West-Bengalen hat gutes Wasser, guten Boden, gutes Wetter, meistens jedenfalls. Vielleicht könnte man sich der Sektoren Research, Sustainables oder Agriculture annehmen. Wir und andere Hotels suchen beispielsweise händeringend nach einer nachhaltig betriebenen Garnelenfarm. In jedem Fall wäre es wünschenswert, dass sich hier eins, zwei große Manufacturing-Firmen niederlassen. Aber gerade nicht aus der Automotive-Industrie, denn die sitzt schon anderweitig fest im Sattel.

Eines der nicht zu eliminierenden Klischees von Indien ist, dass Frauen hier nichts wert seien, dass sie unterdrückt würden und nichts zu sagen haben. Ist da was dran?

bleick-milde_2Als ob die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau bei uns im Westen schon vollzogen wäre. Über das Problem wird weltweit gestritten, also ist es doch nirgends gelöst. Indien ist bei diesem Thema zweigeteilt. In konservativen Familien herrscht die klassische Rollenverteilung – der Mann geht arbeiten, die Frau ist für Kinder und Haushalt zuständig. Das soll es ja auch in Deutschland geben. Auf der anderen Seite gibt es viele gut ausgebildete Frauen, die von ihrer Familie auf ihrem beruflichen Weg nach oben voll und ganz unterstützt werden. Gerade in mittelständischen Familienunternehmen übernehmen auch die Töchter Führungspositionen. Dass Frauen in dörflichen Regionen oder bestimmten Volksgruppen vielleicht tatsächlich ins Hintertreffen geraten, liegt auch daran, dass dort einfach ein anderes Zeitalter herrscht.

Eine junge Deutsche – ausgerechnet aus der Tourismusbranche – sagte im Gespräch einmal, dass es gefährlich sei, als Frau durch Indien zu reisen.

Das ist kompletter Unsinn. Gerade Kalkutta ist eine sehr sichere Stadt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man in bestimmten Gegenden nicht gerade nachts unterwegs sein sollte. Auch in Los Angeles sollte man als Tourist bestimmte Stadtteile meiden – selbst tagsüber. Doch nirgends heißt es, dass Frauen lieber nicht durch die USA reisen sollten.

Expatriates berichten immer wieder, dass Mitarbeiterführung in Indien eine besondere Herausforderung sei – es mangele am selbstständigen Arbeiten und klaren Auskünften, die Familie spiele ein unverhältnismäßig große Rolle, die Arbeitsdisziplin lasse zu wünschen übrig.

Das ist eine typisch deutsche Denke – und eine äußerst oberflächliche dazu. Viele Europäer klammern sich an Vorgaben, dabei kommt man mit Verständnis für die Kultur und die Umstände weiter als mit Druck. Wenn ich jeden Mitarbeiter feuern würde, der eine Viertelstunde zu spät zur Arbeit kommt, läge die Belegschaft bei Null. Man muss sich zum Beispiel klar machen, woher der Mitarbeiter kommt. Vielleicht aus einem Dorf, das 20 Kilometer entfernt liegt. Mit höchster Wahrscheinlichkeit kommt er mit dem Bus, zwei Stunden zur Arbeitsstelle und ebenso viele zurück sind keine Seltenheit. Herrscht dann noch Monsun, kann’s auch eine Stunde länger dauern. Viele unserer Mitarbeiter haben zu Hause keine Dusche – und selbst wenn, wäre das Make-up nach drei Stunden Anreise bei 40 Grad auch nicht mehr optimal arrangiert. Deshalb bieten wir die entsprechende Infrastruktur, und da wird es eben ein paar Minuten später. Dafür arbeiten die Leute ja auch länger. Und wenn einer partout pünktlich da sein muss, dann richtet er es sich auch so ein, dass das klappt. Stichwort selbstständiges Arbeiten: Die einen können’s, die anderen nicht und bei den dritten muss man ein bisschen nachhelfen. Ja, man muss in Indien – aus unserer Perspektive – etwas mehr Geduld, besser noch: Gelassenheit, aufbringen. Wer das nicht schafft, sollte zu Hause bleiben. Wer aus dem Schwarzwald kommt, darf nicht erwarten, dass die Welt voller Kuckucksuhren hängt.

Von Kalkutta wissen die Deutschen vor allem zwei Dinge: dass es am Ganges liegt und dass es eine der chaotischsten Städte der Welt ist. Stimmt das?

Beides stimmt nicht. Kalkutta liegt am Hoogly River, einem Seitenarm des Ganges. Und Chaos ist relativ. Wenn Sie schmutzige Ecken suchen, werden Sie immer welche finden. Aber im Vergleich zu früher ist die Stadt unglaublich sauber geworden, auch strukturierter. Wenn die Arbeiten an den Fly-overs abgeschlossen sind, wird das richtig schön.

Man muss sich also als Expatriate vor der Stadt nicht fürchten?

Als ich eine Alternative zu meiner Arbeitsstelle in Mumbai suchte, riet mir eine Freundin zu Kalkutta: Durga Puja, warmherzige Leute, sehr sicher, eher zu viel social life als zu wenig. Sie hatte vollkommen Recht. Kalkutta ist eine wunderbare Stadt. Man muss sich darauf einlassen wollen – dann kann man hier – wie in ganz Indien – sehr erfolgreich sein.

Drei Jahre lang wurde das Hyatt-Hotel in Kalkutta von einer Deutschen geführt: Bevor Britta Leick-Milde 2013 die Leitung des Hauses übernahm, sammelte sie Erfahrungen in Hyatt-Hotels in Mumbai und Dubai. Im September ist sie weitergezogen – nach Doha.

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